Johann Wolfgang von Goethe
Seine Gedichte
Der Becher

Originalzitat des Gedichtes
Einen wohlgeschnitzten vollen Becher
Hielt ich drückend in den beiden Händen,
Sog begierig süßen Wein vom Rande,
Gram und Sorg auf einmal zu vertrinken.
Amor trat herein und fand mich sitzen,
Und er lächelte bescheiden-weise,
Als den Unverständigen bedauernd.
»Freund, ich kenn ein schöneres Gefäße,
Wert, die ganze Seele drein zu senken;
Was gelobst du, wenn ich dir es gönne,
Es mit anderm Nektar dir erfülle?«
O wie freundlich hat er Wort gehalten!
Da er, Lida, dich mit sanfter Neigung
Mir, dem lange Sehnenden, geeignet.
Wenn ich deinen lieben Leib umfasse
Und von deinen einzig treuen Lippen
Langbewahrter Liebe Balsam koste,
Selig sprech ich dann zu meinem Geiste:
Nein, ein solch Gefäß hat außer Amorn
Nie ein Gott gebildet noch besessen!
Solche Formen treibet nie Vulcanus
Mit den sinnbegabten, feinen Hämmern!
Auf belaubten Hügeln mag Lyäus
Durch die ältsten, klügsten seiner Faunen
Ausgesuchte Trauben keltern lassen,
Selbst geheimnisvoller Gärung vorstehn:
Solchen Trank verschafft ihm keine Sorgfalt!
Wann entstand das Gedicht "Der Becher"?
Das Gedicht „Der Becher“ wurde zwischen 1765 und 1832 von Johann Wolfgang von Goethe verfasst. Es ist ein Werk der Klassik, das die Harmonie von Liebe, Kunst und Natur thematisiert.
Worum geht es in dem Gedicht?
In „Der Becher“ reflektiert das lyrische Ich über die Bedeutung von Liebe und Zuneigung. Der Becher wird dabei zum Symbol für menschliche Sehnsüchte und Erfüllung. Die Begegnung mit Amor und die Gabe der Liebe lassen das lyrische Ich erkennen, dass wahre Freude nicht in materiellen Dingen, sondern in zwischenmenschlicher Nähe liegt.
Inhalt / Handlung des Gedichts
Das Gedicht beginnt mit dem Bild eines Weinkelches, der als Sinnbild für Trost und Genuss dient. Amor, der Gott der Liebe, erscheint und stellt dem lyrischen Ich ein schöneres Gefäß in Aussicht: die geliebte Lida. Durch die Liebe zu ihr findet das lyrische Ich die wahre Erfüllung. Der Vergleich zwischen göttlichem Handwerk und der Schöpfung von Liebe unterstreicht die überlegene Schönheit und Einzigartigkeit menschlicher Beziehungen.
Interpretation
„Der Becher“ ist eine Allegorie für die Suche nach Erfüllung und Glück. Goethe hebt hervor, dass wahre Erfüllung in der Liebe und nicht in materiellen Besitztümern liegt. Die Begegnung mit Amor symbolisiert die transformative Kraft der Liebe. Der Weinbecher, als Sinnbild für weltlichen Genuss, wird durch das Bild der Geliebten als wahres Gefäß der Freude ersetzt. Das Gedicht zeigt den Übergang von oberflächlicher Befriedigung zu tiefer emotionaler und spiritueller Erfüllung.
Reimschema und stilistische Mittel:
Das Gedicht folgt einem freien Reimschema, das die Erzählstruktur unterstützt. Goethe verwendet zahlreiche Metaphern, wie den Becher und die Trauben, um die Themen Genuss, Liebe und Erfüllung zu verdeutlichen. Die Sprache ist bildhaft und emotional, was die intensive Wirkung der Liebe auf das lyrische Ich betont.