Logo Johann Wolfgang von Goethe

Johann Wolfgang von Goethe

Gedichte

Die Geheimnisse

Ein Fragment

Johann Wolfgang von Goethe - Die Geheimnisse


Originalzitat des Gedichtes

Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte
Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,
Daß ich erwacht, aus meiner stillen Hütte
Den Berg hinauf mit frischer Seele ging;
Ich freute mich bei einem jeden Schritte
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing;
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken,
Und alles war erquickt, mich zu erquicken.

Und wie ich stieg, zog von dem Fluß der Wiesen
Ein Nebel sich in Streifen sacht' hervor.
Er wich und wechselte, mich zu umfließen,
Und wuchs geflügelt mir um's Haupt empor:
Des schönen Blicks sollt' ich nicht mehr genießen,
Die Gegend deckte mir ein trüber Flor;
Bald sah ich mich von Wolken wie umgossen,
Und mit mir selbst in Dämm'rung eingeschlossen.

Auf einmal schien die Sonne durchzudringen,
Im Nebel ließ sich eine Klarheit sehn.
Hier sank er leise sich hinab zu schwingen,
Hier theilt' er steigend sich um Wald und Höhn.
Wie hofft' ich ihr den ersten Gruß zu bringen!
Sie hofft' ich nach der Trübe doppelt schön.
Der luft'ge Kampf war lange nicht vollendet,
Ein Glanz umgab mich, und ich stand geblendet.


Wann entstand das Gedicht "Die Geheimnisse"?

Das Gedicht "Die Geheimnisse" wurde von Johann Wolfgang von Goethe verfasst und erstmals um 1825 veröffentlicht. Es handelt sich um ein Fragment, das sich durch seine tiefe Symbolik und Reflexion über das Leben auszeichnet.

Worum geht es in dem Gedicht?

"Die Geheimnisse" schildert eine spirituelle Reise, bei der das lyrische Ich von der Natur inspiriert wird. Der Morgen, die Landschaft und mystische Erlebnisse symbolisieren die Suche nach Erkenntnis und innerem Frieden.

Inhalt / Handlung des Gedichts

Das Gedicht "Die Geheimnisse" beginnt mit der Morgendämmerung, die das lyrische Ich aus dem Schlaf erweckt. Diese Szene symbolisiert einen Übergang von der Ruhe zur Aktivität, von der Unwissenheit zur Suche nach Erkenntnis. Das lyrische Ich begibt sich auf eine Wanderung, die es über Hügel und durch Täler führt. Dabei begegnet es der Schönheit der Natur, die in ihrer Reinheit und Lebendigkeit beschrieben wird: Tropfen an Blüten, der junge Tag, der voller Freude erwacht, und die Atmosphäre, die erquickend auf das Ich wirkt.

Als das lyrische Ich weiter wandert, zieht ein Nebel aus der Landschaft auf und umhüllt es vollständig. Diese Phase steht für die Unsicherheit und Verwirrung, die in jedem Prozess der Selbstfindung auftreten. Der Nebel trübt nicht nur die Sicht, sondern symbolisiert auch die Herausforderungen und Zweifel, die die Klarheit der Gedanken verdecken. Schließlich bricht die Sonne durch die Wolken und der Nebel lichtet sich. Dieser Moment der Erleuchtung spiegelt die Überwindung von Hindernissen und den Eintritt in eine Phase der Klarheit und Erkenntnis wider. Das Licht wird als blendend und überwältigend dargestellt, was die Intensität der neuen Einsichten verdeutlicht.

Mystische Erscheinungen, wie die Begegnung mit einer göttlichen weiblichen Figur, verstärken die spirituelle Dimension des Gedichts. Diese Figur spricht das lyrische Ich an und erinnert es an die innere Verbindung und die Suche nach höheren Idealen. Das Gespräch zwischen dem lyrischen Ich und der Figur dient als Reflexion über das Leben, die eigenen Schwächen und die Rolle des Menschen in der Welt. Das Gedicht endet mit einem Gefühl der Befreiung und einer Wiederherstellung des Gleichgewichts, da das lyrische Ich sich mit der göttlichen Ordnung im Einklang fühlt.

Interpretation

"Die Geheimnisse" ist mehr als nur eine Schilderung einer Wanderung durch die Natur. Es ist eine tiefgehende Allegorie für die Suche nach Selbsterkenntnis und spiritueller Erleuchtung. Der Weg durch die Landschaft symbolisiert die Lebensreise des Menschen, bei der er sowohl mit äußeren Hindernissen als auch mit inneren Konflikten konfrontiert wird. Der Nebel, der das lyrische Ich umhüllt, steht für die Ungewissheiten des Lebens und die Momente, in denen der Mensch die Orientierung verliert. Die Sonnenstrahlen, die den Nebel durchbrechen, repräsentieren die transformative Kraft der Erkenntnis und des Wissens, die den Geist erhellen und die Dunkelheit vertreiben.

Die Begegnung mit der weiblichen göttlichen Figur verleiht dem Gedicht eine spirituelle Ebene. Sie symbolisiert die Verbindung zwischen Mensch und höheren Idealen, die den Menschen in seinem Streben nach Wahrheit und Glück leiten. Ihre Worte ermutigen das lyrische Ich, sich seiner Schwächen bewusst zu werden, gleichzeitig aber auch die eigene Stärke und das Potenzial zu erkennen. Diese Botschaft spiegelt Goethes humanistische Überzeugung wider, dass der Mensch durch Selbstreflexion und eine harmonische Beziehung zur Natur und seinen Mitmenschen Erfüllung finden kann.

Das Gedicht verdeutlicht die Dualität von Klarheit und Verwirrung, Licht und Dunkelheit, die das Leben prägen. Die Natur wird dabei nicht nur als Kulisse, sondern als aktiver Akteur dargestellt, der das innere Erleben des Menschen spiegelt und verstärkt. "Die Geheimnisse" ist ein Fragment, das trotz seiner Unvollständigkeit eine universelle Botschaft vermittelt: Erkenntnis und Frieden sind erreichbar, wenn der Mensch bereit ist, sich auf die Reise der Selbstentdeckung und des Verständnisses einzulassen.

Reimschema und stilistische Mittel:

Das Gedicht folgt einem regelmäßigen Reimschema und nutzt Bilder aus der Natur, wie Nebel und Licht, um den Wandel und die Erleuchtung des lyrischen Ichs darzustellen. Metaphern und Personifikationen, wie "die Sonne durchdringen" oder "die Wolken wie umgossen", unterstreichen die emotionale Tiefe.

andere Personen


Friedrich von Schiller - Heinrich Göbel - Johann Heinrich Pestalozzi - Ralph Gawlick